Ein paar Blumen hat jeder verdient

  • "Ein paar Blumen hat jeder verdient" - das war der Titel einer Geschichte, die vor rund zwanzig Jahren in einer Episode der ZDF-Fernsehserie "Weißblaue Geschichten" ausgestrahlt wurde. Der bayerische Volksschaupieler Gustl Bayrhammer (†), den meisten von euch wahrscheinlich am ehesten durch seine Titelrolle in der Fernsehserie "Meister Eder und sein Pumuckl" bekannt, spielte in dieser Geschichte einen älteren Herrn, der auf einem Friedhof andere Besucher um eine Spende in Form einer Schnitt- oder kleinen Topfblume bat, um sie auf das Grab verstorbener Menschen zu stellen, die, wie er aus seinem penibal geführten Notizbuch wusste, an diesem Tag Geburtstag hatten, denen aber sonst niemand Blumen brachte.


    Ich meine, mich dunkel entsinnen zu können, dass diese Serie damals samstags um halb acht ausgestrahlt wurde, und vermutlich lief sie bei uns zu Hause gerade, weil wir im Familienverband anschließend "Wetten, dass...?" schauen wollten - das ist jetzt aber nur spekulativ, und eigentlich gar nicht wichtig.


    Wichtig ist hingegen: als ich damals, vor wie gesagt ungefähr erst zwanzig Jahren, an Allerheiligen - zur Erläuterung: Allerheiligen, gefeiert am 1. November, ist in der katholischen Kirche der Vorabend des Festes Allerseelen, an dem Katholiken ihrer verstorbenen Angehörigen gedenken und anlässlich dessen Lichter auf deren Gräbern aufstellen - mit meinen Eltern zum Friedhof fuhr, um Grablichter aufzustellen, musste die Polizei den Verkehr regeln, so hoch war das Verkehrsaufkommen rund um die Friedhöfe. Am Ewigkeitssonntag bzw. Totensonntag, dem Gedenktag der evangelischen Kirche an ihre Verstorbenen, herrschte noch mal der gleiche Auftrieb.


    Dass es verstorbene Menschen gab, an die niemand mehr dachte - ja, das kannte ich auch schon als Kind, bei unseren Friedhofsbesuchen sah ich immer wieder mal hier und dort ein ungepflegtes, verwildertes Garb, und meine Eltern erklärten mir ganz ehrlich, warum das so war. Wirklich einordnen und bewerten konnte ich das aber nicht, dazu war ich einfach noch zu jung, der Tod für komplexe Gedanken über eben diesen zu weit weg.


    Mit einer Geschichte im Fernsehen, in der jemand sonst vergessenen Menschen an ihrem Geburtstag Blumen auf ihr Grab stellt, konnte ich erst recht nichts anfangen. Als Erwachsener hätte ich das damals sicherlich "liebenswert" gefunden, mehr aber auch nicht - wer hat sich "damals", d. h. vor rund zwanzig Jahren, schon großartig Gedanken um das Vergessenwerden gemacht? Wie oben beschrieben, an Allerheiligen bzw. dem Ewigkeitssonntag waren die Friedhöfe voller Grablichter, nur Polizeihundertschaften konnten dem Ansturm der Angehörigen auf die Friedhöfe Herr werden.


    Heute ist mir diese Geschichte wieder eingefallen, denn heute wäre mein Großvater 89 Jahre alt geworden. Er starb am 4. September dieses Jahres nach langer schwerer Demenzkrankheit, buchstäblich in den Armen meiner Großmutter (84), die ihn bis zuletzt zu Hause gepflegt hat. Er hatte eine "schöne" Beerdigung: seine Kinder und Enkelkinder, Schwiegerkinder, Nichten und Neffen, Nachbarn, Freunde und Bekannte, darunter ein Freund aus seiner Zeit als Lehrling (!) kamen aus teilweise hunderten Kilometern Entfernung zu Trauerfeier, Leichenschmaus und Seelenamt. In der Trauerhalle war sein Sarg umgeben von einem Meer aus Kränzen und Blumenschalen. Meine Großmutter bekam Dutzende Kondolenzkarten und auch einen Anruf des "Vorsitzenden" des Stammtischs ehemaliger Mitarbeiter jenes inzwischen abgewickelten Werks, an dem mein Großvater als leitender Angestellter tätig war - er wollte eine biografische Eckdaten meines Großvaters erfragen, da die Runde bei ihrem nächsten Zusammenkommen einen Toast auf ihn ausbringen wollte.


    Trotz der mitunter großen geografischen Distanz pflegen wir sein Grab bis heute als Familie gemeinsam in Eigenregie. Zu seinem heutigen Geburtstag ist meine Großmutter mit einer ganzen Einkaufstasche voller Grablichter zum Friedhof gefahren, von uns allen eines. Wir alle haben sie angerufen und uns gemeinsam mit ihr im Gespräch an ihn erinnert.


    Wie selbstverständlich sind ein solcher Abschied und ein solches Gedenken heute noch? Wie lange wird es so etwas noch geben?


    Heute, in einem Zeitalter der totalen Individualisierung, der weitestgehenden Auflösung familiärer Banden, des Jugendlichkeitswahns und der völligen Diesseitsorientierung? Heute, im Zeitalter der anonymen Bestattungen, deren einzige Zeugen vielfach die vom Versorgungsamt bezahlten Totengräber sind, und deren letzte Ehrerbietung an einen Verstorbenen deren Verbeugung und ein zweifelsfrei ehrlich gemeintes und ehrfurchtsvolles, aber doch schlichtes und unpersönliches "Ruhe in Frieden!" sind?


    Wer wird eines Tages zu unseren Beerdigungen kommen? Unsere Kinder, sofern wir welche haben oder haben werden? Unsere Geschwister, Nichten und Neffen, sofern (zukünftig) vorhanden? Unsere Freunde, Bekannten, Nachbarn, Weggefährten im Leben?


    Wie werden unsere Grabstätten einmal aussehen, wer wird sie besuchen, wer wird sie pflegen, wer wird sich aktiv an uns erinnern? Auch für diejenigen unter uns, die Nachkommen, Verwandte und Freunde hinterlassen werden, gilt auf Grund der Schnelllebigkeit unserer Welt und der Ausblendung des Todes aus dem Leben durchaus diese Frage. Was wird von uns bleiben, außer vielleicht einer an unserem Todestag bereits jahrzehntealten Diplomarbeit in den Archiven unserer Alma Mater, oder unser Namen in den Mitgliederlisten einer Gewerkschaft oder eines Berufsverbandes?


    Dieser Text soll niemanden herausfordern oder nötigen, seinen Umgang mit dem Andenken an seine Verstorbenen Angehörigen, die Integrität seiner Familie, seines Freundeskreises o. dergl. zu verteidigen oder zu rechtfertigen. Auch will ich hier kein "Bashing" des ach so "verkommenen" Zeitalters, in dem wir leben, anzetteln.


    Es ist die Frage nach dem Umgang unserer Gesellschaft, in der wir leben, die wir mitgestalten und mitprägen, deren Teil wir sind, mit Leben und Tod, mit Vergänglichkeit, Abschied, Trauer und Andenken, je nach religiösem bzw. weltanschaulichem Bekenntnis mit der Hoffnung auf ein Wiedersehen oder der Annahme eines Verlustes für immer, die mich, seit ich gewisse Veränderungen meiner Umwelt gegenüber noch meiner Kindheit bewusst wahrnehme, umtreibt.


    Wer etwas dazu sagen, seine Gedanken und Gefühle ausdrücken möchte, der ist herzlich eingeladen, das zu tun.

    Amber Marie Ford
    Richterin am Unionsgericht
    Unionsministerin der Justiz a. D.
    Präsidentin des Unionsparlamentes a. D.
    Unionsvorsitzende der FDU a. D.
    Ministerpräsidentin des Freistaates Freistein a. D.
    Oberste Unionsanwältin a. D.

  • Ich möchte den potentiellen Leser meines Beitrags warnen, dass es mir wie üblich an Pietät fehlt und auch keine Sentimentalitäten zu erwarten sind. Ich habe daher auch die Schriftgröße minimiert - wer sich also nicht sicher ist, ob er es lesen will, soll es lassen.


    [SIZE=1]Mir ist es vollkommen gleichgültig, was mit "mir" passiert, wenn ich tot bin. Der Satz hat per se schon keinen Sinn, weil ich nicht tot sein kann, denn Totsein heißt Nichtsein. Der Besuch von Friedhöfen, Beerdigungen, Gräbern ist für mich soziale Verpflichtung, aber bis auf das Mitleid mit den Hinterbliebenen eine emotionslose Angelegenheit. Was vorbei ist, ist vorbei.[/SIZE]

  • Ich habe mir auch Gedanken über das, was "AM-F" geschrieben hat und erst gestern hatte ich eine Diskussion mit meinem Freund diesbezüglich - ich komme zum Entschluss wie das "Kleingedruckte" des "R.S."... Mein Bruder ist selbst 2007 am 21.12.2007 im Alter von 42 Jahren verstorben - was bleibt sind Erinnerungen - auf Grund der räumlichen Entfernung sind Friedhof-Besuche eingeschränkt möglich. Ich muss auch nicht unbedingt auf den Friedhof, um bei ihm zu sein, meine Gedanken an ihn sind da wichtiger. Ich habe mich nach dem Tod meines Bruders fast 1,5 Jahre mit dem Tod beschäftigt, es gab viele Gedanken, die ich hatte. Ich genieße jeden Tag und hoffe, dass ich das noch lange kann. Und wenn ich Tod bin, oder kurz davor, dann hoffe ich, dass ich das nicht merke.


    Fazit von gestern bei der Diskussion mit meinem Freund gestern: Siehe Statement von "R.S." Es ist Aus, Ende, Finito und man hört auf zu existieren.

    Madonna Ritchie-Ashcraft
    * 16.08.1958 + 11.10.2009
    Für tot erklärt, verschollen nach dem Flugzeugabsturz


    Ich glaube an den Sex und an den Tod - zwei Erfahrungen, die man nur einmal im Leben macht. - Woody Allen -

  • Von dem Tod vieler Angehöriger, Freunde oder auch von Lieben will ich hier gar nicht berichten. Obwohl ich dazu, so wie jeder, auch eine Geschichte erzählen könnte. Was mich nachhaltig geprägt hat, war die Beerdigung eines ehemaligen Nachbars.


    Dieser Mann war einmal Nachbar von uns und verstand sich besonders gut mit meinem Vater, da sie beide in etwa aus der gleichen Region kommen. Der Mann war Architekt und hat die Straße entworfen, die in den Ort führt aus dem mein Vater stammt, es war die erste Straße, die er je geplant hat und mein Vater hat es sich nicht nehmen lassen ihn jedes mal scherzhaft auf die bescheuerte Kurve gegen die Hanglage (in der ich fast einmal zu Tode gefahren wurde) hinzuweisen. Da er unser Nachbar war, habe ich ihn während meiner Kindheit und Jugend oft erlebt und obwohl er ein älterer Herr war und man der Jugend etwas anderes nachsagt, hatte er immer meinen größten Respekt. Er war ein grundsolider Mensch, fuhr jeden Sonntagmorgen auf den Markt um Fleischwurst zu kaufen. Und er war anständig. Gerade das findet man ja bei vielen Menschen heutzutage selten.


    Nachdem wir fortgezogen sind, habe ich ihn einige Jahre nicht mehr gesehen. Bis irgendwann seine Frau bei uns vor der Tür stand und erzählte, dass er Krebs hat. Sie hatte keine Angehörigen mehr und wusste nicht an wen Sie sich wenden soll. Da wir in der Nähe des Krankenhauses wohnten, halfen wir ihr. Als es mit ihm zu Ende ging, eilten wir mit ihr zum Krankenhaus, denn kein Mensch sollte allein sterben müssen von Sorgen um den Lebensgefährten, den man zurücklässt, geplagt. Er wusste so, dass noch jemand da war und sich kümmert. Die Frau hatte auch den Sohn aus erster Ehe unseres Nachbarn angerufen, einen Familienvater. Bis zu diesem Zeitpunkt wusste niemand von uns, dass er überhaupt einen Sohn hat. Er hat nie darüber gesprochen. Der Sohn konnte aber nicht kommen, da er mit seiner F-Jugend die er trainierte gerade im Pokalfinale des Stadtturniers stand....


    Es kam zur Beerdigung. Da nicht mehr sehr viel Geld übrig geblieben ist während des Ruhestands, war es ein anonymes Begräbnis - soll heißen ohne Grabstein, nur Beisetzung der Urne.


    Meine Mutter, die Frau des Verstorbenen, zwei ehemalige Arbeitskollegen, der Bestatter und ich waren anwesend. Mein Vater hatte keine Wahl, er musste arbeiten. Der Sohn des Verstorbenen und seine Familie erschienen eine halbe Stunde zu spät. Es ging nicht früher, der Vater musste noch das Fußballtraining beenden. Und mir blieb fast das Herz stehen. Ich achte vielleicht ein wenig zu sehr auf angemessene Kleidung, aber der Aufzug in dem die Familie des Sohnes kam war zu viel für mich. Der Sohn des Verstorbenen trug eine grüne Gärtnerlatzhose mit Turnschuhen und hatte eine Pelzweste an. Die beiden Enkel trugen Baggy-Hosen mit Jackett und die kleine Enkelin hatte ein ekelhaftes weißes Samtkleid an, wie eine Porzellanpuppe. Die Frau des Sohnes war noch am ordentlichsten gekleidet, sie trug Jeans und Bluse.


    Vor der Beisetzung der Urne, sollten dann noch ein paar Worte gesagt werden. Wie auf Befehl brach die Familie des Sohnes in Tränen aus und die Frau des Sohnes sollte noch eine Rede halten. Mir wurde fast schlecht als sie anfing zu reden, die "Rede" war lange Zeit bei Google der erste Treffer für "angemessene Grabrede" und so abgelutscht, so wiederlich. Es war in etwa genauso unpassend, als hätte sie die Gefallenenrede des Perikles zitiert. Wobei sogar das noch mehr Würde ausgestrahl hätte. Sogar ich, der ich ihn kaum kannte, hätte eine bessere Rede halten können.


    Das hatte dieser Mann nicht verdient, das spürte ich ganz deutlich. Und auch nur das ist der Grund warum ich mir gemerkt habe wo die Urne in den Boden gelassen wurde und nur das ist der Grund, warum ich jedes Jahr dort hinfahre und Blumen hinlege.


    Auch wenn der Mensch tot ist, das Andenken bleibt da und auch das kann man mit Füßen treten. Und genau das gehört sich nicht.

  • Es hängt wohl von jedem individuell ab ob und wie er mit dem Tod umgeht. Viele sind froh wenn sie nicht damit konfrontiert werden. Erst wenn eine einem nahestehende Person stirbt macht man sich dann Gedanken. Evtl. auch, daß man doch zu wenig Zeit mit der/dem Verstorbenen verbracht hat. Grundsätzlich: Solange die Menschen leben, sollte man ihnen Zeit schenken!


    Obwohl z.B. die Grabstätte meines Großvaters ziemlich in der Nähe liegt, gehe ich nicht hin. Ich denke oft an ihn, habe mir einige seiner Sprüche zu eigen gemacht. Wenn ich einen dieser Sprüche verwende, oder gerade jetzt wo ich diese Zeilen schreibe, ist er mir sehr nah.


    "Der Mensch ist erst wirklich tot, wenn niemand mehr an ihn denkt..."
    Berthold Brecht


    Es ist für mich diesbezüglich nicht notwendig an seinem Grab zu stehen. Dieses wird eh irgendwann abgeräumt, eine andere Person wird dann dort beerdigt werden. Ich trage meinen Großvater in meinen Gedanken, in meinem Herzen mit mir mit.


    Persönlich möchte ich eine Urnenbeisetzung. Bin mir noch unschlüssig ob im sog. "Anonymenfeld", oder in einem schlichten Urnengrab. Diese Entscheidung werde ich aber evtl. meinen Hinterbliebenen überlassen. Ich hab ja hoffentlich noch Zeit.

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